beziehungsweise 4/2025–Artikel 2
Väterkarenz online diskutiert und gerechtfertigt
Onlinekommentarspalten als öffentliche Arena der Meinungsbildung und des Diskurses
Von Marlene Schuster
Die Beteiligung von Vätern an der Elternkarenz ist in Österreich seit Jahren ein viel diskutiertes Thema. Seit 1990 besteht die Möglichkeit für Männer, Elternkarenz in Anspruch zu nehmen. Bis zum Jahr 2017 stieg der Männeranteil kontinuierlich an, seither ist er allerdings wieder rückläufig. Auch die Dauer der Karenzen unterscheidet sich deutlich nach Geschlecht: Im Jahr 2020 bezogen Frauen durchschnittlich 470 Tage Kinderbetreuungsgeld, Männer hingegen nur 124 Tage (Riesenfelder und Danzer 2024). Aktuelle gesetzliche Regelungen – wie etwa die Möglichkeit, die maximale Karenzdauer von 24 Monaten nur dann auszuschöpfen, wenn sich auch der zweite Elternteil für mindestens zwei Monate beteiligt (Bundeskanzleramt Österreich 2025) –, verdeutlichen, dass eine stärkere Väterbeteiligung politisch gefördert wird. Allerdings bewegt das Thema nicht nur auf politischer Ebene, sondern wird auch im Alltag oft leidenschaftlich diskutiert – sowohl befürwortend als auch kritisch.
Neben persönlichen Gesprächen haben sich digitale Räume als bedeutende Orte für Diskussionen etabliert. Ein Beispiel für solche Diskussionsorte sind Onlinekommentarspalten unter Zeitungsartikeln.
Studie zum Thema Väterkarenz in Onlinekommentarspalten
In der hier vorgestellten Studie handelt es sich um eine Dissertation an der Universität Luzern im Fachbereich Soziologie. Es wird untersucht, wie Poster:innen in Onlinekommentarspalten österreichischer Tageszeitungen Einstellungen zur Väterkarenz begründen und bewerten. Dabei werden Onlinediskurse analysiert. Diskurse enthalten unterschiedliche Sichtweisen auf die Väterkarenz. Als Datenbasis dienen Kommentarspalten in österreichischen Onlinezeitungen, zum Beispiel in "derStandard.at", "krone.at", "diepresse.com", "kleinezeitung.at" oder "kurier.at". Zur Kontextualisierung werden die jeweils kommentierten Zeitungsbeiträge herangezogen, da diese die Diskussion oft wesentlich mitgestalten. Die Datenauswertung basiert auf diskursanalytischen Verfahren (Foucault 1982) und Ansätzen aus der Soziologie der Konventionen (Boltanski und Thévenot 2007). In der Soziologie der Konventionen werden sogenannte "Rechtfertigungsordnungen" analysiert, um zu sehen, was innerhalb der Gesellschaft als gerecht oder ungerecht angesehen wird.
Einblick ins Datenmaterial über Web Scraping
Die Datensammlung erfolgt mit einem Web-Scraping-Tool namens "Octoparse". Web Scraping bezeichnet eine Methode mit der automatisiert Daten von Websites gesammelt werden, zum Beispiel Kommentare zu einem Zeitungsartikel. Die Sammlung dieser Daten ist im Allgemeinen rechtlich erlaubt, sofern öffentlich zugängliche, nicht personenbezogene Daten gesammelt werden. Die folgende Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus dem Datenmaterial. Hier wurden Kommentare eines Artikels von "krone.at" mit dem Titel "Neue Studie zeigt: Wahlfreiheit hat Väterkarenz ausgebremst" und eines Artikels von "standard.at" mit dem Titel "Väter gehen nur kurz oder gar nicht in Elternkarenz" als Datenmaterial aufgenommen.
Nr. | Key word | Titel_URL | Onlinekommentar | Datum |
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1 | Väterkarenz | www.derstandard.at | Was hat das mit Gleichberechtigung zu tun wenn das Angebot von Männern weniger angenommen wird - berechtigt sind beide. Da schwingt man mal wieder die Gleichberechtigungskeule um alle brav gehörig zu machen. | 30.07.2025 |
2 | Väterkarenz | www.derstandard.at | zum 100. Mal die gleiche Diskussion, zum 100. die gleichen öden Kommentare und Ausreden. Karenz und Daheimsein ist super, und wer sich das nicht ein paar Monate auch mit dem Gehalt des Wenigerverdienenden leisten kann, hat sowieso ein Problem (was ist bei Krankheit, Tod, Arbeitslosigkeit?). Und auch karrieremäßig sind die paar Monate meist kein Problem, was die Frauen aber belastet und ins finanzielle/karrieretechnische Aus kickt sind die vielen Jahre danach, wo sie nicht voll arbeiten kann und auch nicht flexibel ist. | 17.06.2025 |
3 | Väterkarenz | www.derstandard.at | Frauen wählen meistens Männer die mehr Geld verdienen, klarerweise gehen die Frauen dann in Karenz und viele wollen das natürlich. | 16.06.2025 |
4
| Väterkarenz | www.krone.at | Die Politik soll sich nicht in die Familienangelegenheiten einmischen, jede Familie soll das so machen wie sie will und wie es finanziell besser ist. | 07.07.2024 |
5
| Väterkarenz | www.krone.at | Aber vielleicht würde auch hier eine unbedingte Unterrichtung in Erziehung nutzen. Dann würden auch Väter verstehen, wie wichtig es ist, dass sie für ihre Kinder da sind. Auf jeden Fall braucht es einen Gehaltsausgleich, der es den Vätern wirklich ermöglicht bei den Kindern zu bleiben. Dass das dann auch den Frauen Zugute kommt, ist ja kein Fehler. | 06.07.2024 |
Abbildung: Einblick ins Datenmaterial – Onlinekommentare zum Thema Väterkarenz aus "derstandard.at" und "krone.at"
Quelle: exportiert in Excel aus Octoparse, Schuster 2025
Wofür eignen sich Onlinekommentarspalten (nicht)?
Wie Legewie und Fasang (2021: 91) betonen, bieten Onlinekommentare Potenzial für die soziologische Forschung im Allgemeinen und für die Familiensoziologie im Speziellen. Sie bieten eine polarisierende Auseinandersetzung mit Themen wie Elternschaft, Geschlechterrollen, Familienpolitik und gesellschaftlichen Normen.
Die Analyse von Onlinekommentaren bringt jedoch auch spezifische Einschränkungen mit sich. Onlinekommentare sind nicht frei von externen Einflüssen: Moderation, Zensurmaßnahmen oder auch bezahlte Beiträge können das veröffentlichte Meinungsbild verzerren. Die Sichtbarkeit und Reihenfolge von Kommentaren ist nicht zufällig, sondern durch Plattformlogiken gesteuert, was auch Auswirkungen darauf haben kann, wie darüber diskutiert wird. Dies muss nicht per se als Verzerrung gesehen werden, sondern vielmehr als Merkmal digitaler Diskurse. Gerade aus konventionentheoretischer Perspektive kann es analytisch sinnvoll sein, zu sehen, welche Argumentationsmuster durch algorithmische Strukturen sichtbar gemacht oder verstärkt werden. So lassen sich Rückschlüsse ziehen, welche Rechtfertigungsordnungen im digitalen Raum besonders (un)gerecht erscheinen. Dass Algorithmen den Diskurs mitgestalten, kann also nicht nur problematisch gesehen werden – es kann auch gewinnbringend für die Analyse sein, weil dadurch gängige Argumentationsmuster hervorgehoben werden.
Was die Analyse von Onlinekommentarspalten allerdings nicht kann, ist Rückschlüsse auf den sozialen Kontext der Kommentierenden zu ziehen. Wir wissen weder über Alter, Geschlecht, Beruf oder Bildungsstand der Poster:innen Bescheid. Ebenso wenig sieht man, wie sich Meinungen biografisch entwickelt haben. Kommentare können ironisch oder provokant gemeint sein – ein Nachfragen ist an dieser Stelle nicht möglich. Dafür wäre die Methode des Interviews geeigneter.
Onlinekommentare eignen sich jedoch besonders, wenn statistische Repräsentativität nicht im Fokus steht, sondern das Verstehen von Kontroversen und Konflikten, die in der Gesellschaft vorherrschen. Gerade bei emotional aufgeladenen Themen, wie etwa der Väterkarenz, zeigen sich typische Argumentationsmuster, die sowohl privat als auch öffentlich verhandelt werden. Die dialogische Struktur ist hierbei sehr wichtig – sie erlaubt es den Poster:innen sich zu begründen und Kommentare nochmal aufzugreifen und zu rechtfertigen. Die Anonymität der Poster:innen senkt zudem die Schwelle, unbequeme oder sehr kritische Aussagen zu tätigen. Dies könnte als Vorteil gegenüber Interviews gesehen werden, in denen soziale Erwünschtheit höchstwahrscheinlich eine größere Rolle spielt.
Ethische Fragen
Die Nutzung öffentlich zugänglicher Daten für Forschungszwecke wirft grundlegende ethische Fragen auf. Zwar stimmen Poster:innen durch ihre Aktivität den Nutzungsbedingungen der Plattform oder Zeitung zu, nicht jedoch explizit der wissenschaftlichen Auswertung ihrer Beiträge. Auch wenn es sich um öffentliche Daten handelt, ist eine reflektierte, verantwortungsbewusste Forschungsweise erforderlich (Franken 2022). Insbesondere bei sensiblen Themen wie Familie, Elternschaft oder Geschlecht ist beispielsweise eine Anonymisierung der Daten unumgänglich.
Was Onlinekommentare zur Väterkarenz zeigen können
Statistische Daten zeigen, dass Väter in Österreich Elternkarenz nur in geringem Ausmaß nutzen. Wie aber argumentieren Menschen in digitalen Räumen ihre Einstellung und ihr Handeln? Insbesondere wenn es um polarisierende Themen wie die Väterkarenz geht, können Onlinekommentare Diskurse – hier etwa über Geschlechterrollen, Erwerbsarbeit oder Care-Arbeit – gut aufzeigen.
Wenn berücksichtigt wird, dass Onlinekommentare keine neutralen Abbildungen gesellschaftlicher Meinung sind, jedoch in verdichteter Form zeigen, wie normativ aufgeladen und konflikthaft ein Thema verhandelt werden kann, können sie qualitative Studien definitiv bereichern.
Für Forschende, die mit Onlinekommentarspalten arbeiten möchten, empfehlen sich Fragestellungen, die gesellschaftliche Diskurse untersuchen. Ein bewusstes Sampling, zum Beispiel über unterschiedliche Zeitungen mit kontrastierender politischer Ausrichtung, hilft, ein möglichst differenziertes Bild der Diskussion zu erhalten. Die Analyse der Onlinekommentare kann auch ergänzt werden mit anderen qualitativen Methoden, wie zum Beispiel dem Interview, um bestimmte Argumente weiter zu vertiefen. Besonders die technischen Rahmenbedingungen, also etwa Moderation, Algorithmen oder Zensur sollten nicht (nur) als Störung, sondern als Bestandteil digitaler Diskurse und vor allem als Charakteristik des Datenmaterials gesehen werden.
Literatur
Boltanski, Luc; Thévenot, Laurent (2007): Über die Rechtfertigung: Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft: Hamburg: Hamburger Edition HIS.
Bundeskanzleramt Österreich: Elternkarenz. Zugriff am 7. Juli 2025. https://www.oesterreich.gv.at/de/themen/arbeit_beruf_und_pension/Karenz-und-Mutterschutz/elternkarenz_und_elternteilzeit/Seite.3590007
Foucault, Michel (1982): Die Ordnung des Diskurses: Inauguralvorlesung am Collège de France am 2.12.1970. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein.
Franken, Lina (2022): Digitale Daten und Methoden als Erweiterung qualitativer Forschungsprozesse. Herausforderungen und Potenziale aus den Digital Humanities und Computational Social Sciences. In: Forum: Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 22 (2) Art. 12. DOI: 10.17169/FQS-22.2.3818
Legewie, Nicolas M.; Fasang, Anette E. (2021): Digital family research. In: Norbert F. Schneider und Michaela Kreyenfeld (Hg.): Research Handbook on the Sociology of the Family. Northampton: Edward Elgar Publishing (Research handbooks in sociology series), S. 89–106.
Riesenfelder, Andreas; Danzer, Lisa (2024): Wiedereinstiegsmonitoring 2024. Kontinuitäten, Trendbrüche und Nachwirkungen der Covid-Krise. Ein Überblick über die Ergebnisse der sechsten Fassung des Wiedereinstiegsmonitorings zu den Kohorten 2006 bis 2021 in Österreich und in den Bundesländern. Wien: L&R Sozialforschung; Arbeiterkammer Wien.
Autorin
Mag.a Marlene Schuster MSc ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wissenschaftsmethodik und Marktforschung an der FH Wiener Neustadt. Sie forscht und lehrt zu qualitativen Methoden und ist Doktorandin an der Universität Luzern bei Prof. Dr. Rainer Diaz-Bone.